Schlittenfahren ist Gottesdienst

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Eine Ausfahrt im Pferdeschlitten durch eine stille Winterlandschaft ist Freude, Romantik und Besinnlichkeit in einem: «Schlittenfahren ist nicht nur Genuss – nein, das ist Gottesdienst», schrieb zum Beispiel im 19. Jahrhundert der schwedische Graf Carl Gustav Wrangel in seinem hippologischen Standardwerk «Das Buch vom Pferde». Wer jemals, in Pelz gehüllt und mit einer warmen Lammfelldecke zugedeckt, in einem Pferdeschlitten durch die kalte Winterluft geglitten ist, der ahnt, wie der berühmte Hippologe diese Aus-sage meinte: Rhythmisch klingen die kleinen Schellen am Geschirr der munter trabenden Pferde, singend knirschen die Kufen auf dem körnig gefrorenen Schnee. Ab und zu schnaubt eines der Tiere, sonst ist es ganz still. Kein Mucks ist zu vernehmen und der Blick verliert sich im weiten Weiss der friedvoll vorüberziehenden Landschaft. Andächtig, ja erhaben und feierlich wird es einem bei einer Schlittenfahrt durch das verschneite Land zumute. Aber auch die freudige Stimmung der vorwärtsdrängenden Pferde überträgt sich auf den Fuhrmann und die Passagiere. Kein Wunder, liessen sich im Laufe der Jahr-hunderte unzählige Komponisten (von Mozart bis Schubert) oder Dichter (von Goethe bis Tolstoi) inspirieren und wurde das Wintervergnügen sowohl musikalisch als auch literarisch immer wieder neu interpretiert. Natürlich fehlen Pferdeschlitten auch in Wintermärchen wie zum Beispiel «Die Schneekönigin» oder «Drei Nüsse für Aschenbrödel» nie. Häufig gleiten sie geheimnisvoll durchs Schneegestöber, geben der Szenerie einen mystischen Touch.

Ehre und Verpflichtung
Schlitten spielen auch bei Werner Wohlwend während der Wintermonate eine wichtige Rolle. Denn Wohli, wie der 50-Jährige von allen genannt wird, unterhält in Pontresina eine Fuhrhalterei. Seit zwei Jahren betreibt er dort den offiziellen Pferde-Omnibus, jenen gedeckten Pneuwagen samt Anhänger mit insgesamt mehr als 30 Sitzplätzen, der sowohl im Sommer als auch im Winter – von imposanten Pferden gezogen – fahrplan-mässig und mehrmals pro Tag ins Rosegtal und zurück nach Pontresina verkehrt. Die begehrte Konzession dafür hat der Bündner von der Gemeinde erhalten: «Eine Ehre und Verpflichtung zugleich», wie er unterstreicht. Und manchmal auch ziemlich stressig. In der Hochsaison sind mehrere Omnibusse gleichzeitig unterwegs, die Einsatzpläne der Pferde und angestellten Fuhrleute, die Buchung der Fahrgäste, das Ein– und Ausspannen und die Pflege der Tiere, der Unterhalt der Fahrstrecke, die Organisation von Heu, Hafer und anderem Kraftfutter für die Mittagspause, von Dutzenden von Decken für die Gäste und die Pferde bedeuten zu Stosszeiten einen logistischen Parforceakt. Denn zusätzlich zum Omnibus können bei Wohli und seinem Team auch private Tages– und Nachtfahrten mit Kutschen oder im Winter mit Schlitten gebucht werden. Trotz Hektik und 16-Stunden-Tagen ist der gelernte Elektriker aber überzeugt, den schönsten Beruf zu haben, den es gibt. «Ich kann mit Pferden arbeiten. Und ich mache Menschen glücklich. Was will man mehr?» Ein schelmisches Lächeln huscht über das wettergegerbte Gesicht des knorrigen Berglers. Locker hält er die Fahrleinen in der Hand, spornt die drei Pferde zum flotten Trab an. Ramona, Florina und die alte Ulli lassen sich nicht zwei-mal bitten. Kraftvoll ziehen sie an, unter ihren Hufen stiebt der Schnee. Spürbar freudig preschen sie den kleinen Schneeweg hinauf, was die Gäste hinten mit ausgelassenen Juchzern quittieren.
Wohli und seine Pferde sind weit-herum, bis über das Engadin hinaus, bekannt. Nicht nur der Fuhrmann, der stets von seinem Kanadischen Schäfer Juma begleitet wird, auch die Pferde fallen auf: Alle sind imposante Hünen, 700 bis 800 Kilo an geballter Kraft. Gros-se, starke Kaltblutrassen haben es Wohlwend besonders angetan – Noriker, Comtois, Ardenner sowie bayrische oder holländische Vertreter des schweren Arbeitspferdetyps. 21 Tiere stehen täglich im Fahreinsatz, ein weiteres Dutzend verdient den Hafer in der Reitschule, die von Wohlis Frau Gina geführt wird. In den Übergangssaisons werden einige der Pferde zusammen mit ihrem Meister ausserdem von Waldbesitzern zum Holzrücken engagiert: ein altes Handwerk, das aber zusehends verschwindet.
Wohli ist stolz auf seine Pferde, vor allem auf diejenigen aus eigener Zucht. Seinen Comtois–Hengst Speedy bringt er mit Noriker oder Ardennerstuten zusammen und versucht so, Pferde im Typ des alten Schweizer Pferdeschlags der Burgdorfer zu erhalten. Das Burgdorferpferd war ein mittelschweres bis schweres Zug- und Arbeitspferd, das in den Sechzigerjahren verschwand. Durch die Bemühungen des Burgdorfer Pferdezuchtvereins sowie der Familie Wohlwend will man diesen Pferdeschlag nun wieder neu beleben. «Der französische Comtois kommt dem Ursprungstyp des Freibergers näher als die heutigen Freiberger, die stark veredelt worden sind», erklärt er seine Strategie.
Die fünfeinhalbjährige Noriker-Comtois–Stute Florina und deren um ein Jahr ältere Vollschwester Ramona sind Wohlis besonderer Stolz. «Zwei fast gleiche Pferde am Wagen zu haben, davon träumt jeder Fuhrmann», verweist er auf das ähnliche Exterieur der beiden Blauschimmel, die durch lebhaftes Temperament, Arbeitswillen, Kraft, Belastbarkeit, Wendigkeit, Robustheit und Freundlichkeit überzeugen. Sie sollen dereinst mit Speedy gekreuzt werden und die wohlwendsche Linie des Burgdorferschlags weiterführen.
Neben Ramona und Florina haben auch Wohlis andere Pferde Temperament – und ein ausgeglichenes, zugängliches Wesen. Das liegt nicht nur an ihren Rassen, sondern ebenso an der Haltung: Sind die Pferde nicht im Arbeitseinsatz, sind sie sommers wie winters im Freien anzutreffen. Auf der Pontresiner Gemeindeweide mit Unterständen leben sie im Herdenverband. Dabei müssen sie mitunter das eine oder andere Hickhack ausfechten, bis sie ihren Platz in der Gruppe mit fester Rangordnung gefunden haben. Gleichzeitig können sie herumlaufen, fressen, schlafen, sich erholen, mit Artgenossen spielen, soziale Kontakte pflegen oder sich zurück-ziehen und einfach nur Pferd sein.
Korrekter Umgang zentral
Wenn die Zugpferde am Arbeiten sind, haben sie es streng. Umso wich-tiger sei ein professioneller Umgang, sagt Wohli, in dessen Betrieb je nach Saison fünf bis acht Angestellte arbeiten. Es sei je länger, je schwieriger, gut ausgebildete Fuhrleute zu finden, sagt der Patron, der nur Mitarbeitende engagiert, die die Pferde fair, korrekt und nie grob behandeln. Seine Leute schickt er in der Zwischensaison ins Nationale Pferdezentrum in Bern, damit sie den Fahrbrevetkurs absolvieren. Vor allem in der Hochsaison müssen die Fahrer an ihre Grenzen gehen. «Wenn die Nerven blank liegen, zählen Fachwissen und Charakterstärke doppelt.» Mangels einheimischen Fachpersonals heuern die Wohlwends auch professionelle Fuhrleute aus dem Ausland an: aus Deutschland, -Österreich, dem Elsass oder aus Ost-europa. Daraus ergeben sich manchmal lustige Momente: Letzte Saison etwa verstand ein rumänischer Fuhrmann kein Wort Deutsch, lernte aber die Kommandi in Schwiizertüütsch auswendig und gab sie an die Pferde weiter: «Uufpasse», «zäme», «hü», «Scheritt», klang es astrein durch den Winterwald. «Meine Leute müssen einheitlich kommunizieren, denn sie fahren immer wieder andere Tiere. Sonst schleichen sich Mödeli ein», sagt der Engadiner, dessen Frau und drei Töchter ebenfalls fahren können und gern im Betrieb aushelfen. Der Sohn derweil hilft lieber mit den Maschinen auf dem Hof mit.
Florina und Ramona schnauben, die schwarzen Mähnen flattern im Wind, lustig spielen ihre Ohren und horchen auf Wohlis Stimme. Dieser nimmt die Leinen sanft auf, hält die Stuten auf dem Heimweg von einer ausgedehnten Schlittenpartie an zu verlangsamen. Gehorsam fallen sie vom Trab in den Schritt, wirken zwar müde, aber gleichzeitig entspannt. Dies hat sich längst auch auf die Gäste im Schlitten übertragen: Die Kinder sind im Takt des beruhigenden «Trin-trin-trin» der Glöckchen eingeschlafen, die Eltern strahlen Zufriedenheit aus. Zurück in Pontresina, schirrt Wohli die zwei Pferdedamen behutsam aus, nimmt die schmucken Kummete mit den Geschirrteilen von den athletischen Körpern und die selber entwickelten Fahrhalftern von den Köpfen. Dann bürstet er das verschwitzte Fell, tätschelt die Stuten, lobt sie, entlässt sie mit einem Klaps auf die Weide, wo sie zum Futterplatz trotten und genüsslich fressen. «Nein», sagt er, «ich bin kein Pferdeflüsterer.» Er habe seine Tiere einfach nur gern und liebe es, mit ihnen zu arbeiten. «Was nicht heisst, dass ich ihnen alles durchgehen lasse», fügt Wohli an. Denn Pferde testeten wie Kinder Grenzen aus. Worin besteht also die Kunst des Fahrens? «Mit Zuckerbrot und Peitsche richtig umzugehen und gut zu kommunizieren», meint der Bergler. «So wie im Leben.»                  

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