Ein Jungpferd kann man mit einer weissen Leinwand vergleichen. Beide sind unbeschrieben, offen für alles. Die Ausbildung des Pferdes beginnt mit einer Vorstellung, einem Wunschtraum: mein eigenes Pferd, selbst ausgebildet. Eine Skizze entsteht, zunächst mit Bleistift. Ab und an müssen wir radieren. Manchmal entwickelt sich alles anders als geplant und dennoch lieben wir das Ergebnis, denn wir haben es selbst geschaffen.
Es kann aber auch passieren, dass man vor dem fertigen Bild steht und feststellen muss, dass es mit der ursprünglichen Traumvorstellung nichts gemeinsam hat. Doch die Farbe ist aufgetragen, Radieren ist unmöglich geworden, oberflächliche Ausbesserungsarbeiten machen alles nur noch schlimmer.
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Ähnliche Auswirkungen hat der Versuch, ein Pferd mit Kraft oder Hilfszügeln korrigieren zu wollen. In solchen Situationen hilft nur eines: ehrlich mit sich selbst zu klären, warum das Ergebnis so geworden ist, eventuell Hilfe holen und mit einem besseren Plan von vorn beginnen. Alles auf Anfang, in Gedanken erneut mit einer weissen Leinwand beginnen, einen Bleistiftstrich an den nächsten setzen. Bis man mit der Skizze zufrieden ist und das Bild genussvoll ausmalen kann.
Nur der feine Strich eines Bleistifts vermag es, Details anzulegen, erlaubt Korrekturen, die später unsichtbar sind. Vergleichbar damit ist die Arbeit mit dem Kappzaum. Sie ist die entscheidende Vorbereitung und grundlegend für das Gelingen der Pferdeausbildung wie auch die Korrektur bereits gerittener Pferde. Durch sie habe ich die Möglichkeit, mein Pferd zu stärken, geradezurichten und damit in Balance zu setzen, bevor ich es mit meinem Gewicht belaste.
Akademische Bodenarbeit als Basis
Es lohnt sich deshalb auch für den Gangpferdereiter, über den Tellerrand zu schauen. Seien Sie offen für neue Erfahrungen und Ansichten, sehen Sie sich in der Reiterwelt um und nehmen Sie das mit, was zu Ihnen und Ihrem Pferd passt. So habe ich in der akademischen Reitkunst ein wunderbares System der Bodenarbeit gefunden, das in Teilen meinen Weg perfekt ergänzt. Kleine, logisch aufeinander aufbauende Schritte machen die Arbeit für das Pferd verständlich und sorgen für eine entspannte Lernatmosphäre.
Ähnlich sollte es ja auch in der Schule funktionieren. Die Kinder beginnen mit dem Abc und setzen dann die einzelnen Buchstaben zu Wörtern zusammen; eins baut logisch auf das andere auf. Die herkömmliche Ausbildung eines Pferdes besteht dagegen oft nur aus drei Schritten: Halfterführigkeit, ausgebundenes Longieren, dann Reiten. Diese Form der Ausbildung weist meines Erachtens Brüche auf. Es wird mit Wörtern, wenn nicht sogar ganzen Sätzen mit Ausrufezeichen dahinter begonnen. Die Pferde haben nicht gelernt, was «Hilfen» bedeuten, bis zu dem Augenblick, in dem sie das erste Mal geritten werden. Das muss zu Missverständnissen und Frustration bei allen Beteiligten führen.
Entspannter Weg der Ausbildung
Wäre es nicht toll, wenn das Pferd vor dem ersten Aufsitzen bereits mit den grundlegenden Dingen vertraut ist? Wenn es durch Dehnung gelernt hat, wie es mit dem Reitergewicht zurechtkommen kann, wenn es dank Gymnastizierung locker und geschmeidig ist, wenn geraderichtende Arbeit ihm zu einer passablen Balance verholfen hat? Wenn es schon erste Zügelhilfen kennt, Stellung und Biegung und sogar Seitengänge wie Schulterherein und Travers zum Alltag gehören? Klingt das nicht sinnvoll und schön? Ich lade Sie ein – auf einen entspannten, aber äusserst effektiven Weg der Ausbildung und Korrektur von Gangpferden.
Voraussetzungen zum Anreiten eines Pferdes
Für eine erfolgreiche Ausbildung sollte der Reiter folgende Voraussetzungen erfüllen.
- Absolut zügelunabhängiger Sitz: Das ist die Grundvoraussetzung! Kleine Buckler oder abrupte Übergänge vom Tölt in einen schwungvollen Trab oder spontanes Angaloppieren dürfen kein Grund sein, mit den Beinen zu klemmen oder mit der Hand hängen zu bleiben.
- Ein ausgereiftes Bewegungsbild: Um jemanden zu schulen, ganz gleich ob Mensch oder Pferd, ist es wichtig, die gewünschte Bewegung/das gewünschte Verhalten klar vor Augen zu haben. Nur so kann man einerseits analysieren und korrigieren und andererseits dem Pferd diese Bilder mental übermitteln.
- Körperliche Fitness: Wir verlangen von unseren Pferden einiges an Fitness und Koordination. Möchte man einem Jungpferd eine vielseitige, solide Grundausbildung angedeihen lassen, ist eine gewisse Kondition auch beim Ausbilder Voraussetzung.
- Geduld, Einfühlungsvermögen und Liebe zur Kreatur: Nicht nur körperlich, auch seelisch wird ein Jungpferd durch respektloses, liebloses, ungeduldiges oder gar grobes Handeln schnell aus seinem Gleichgewicht gebracht. Pferdeausbildung verlangt einen ausgeglichenen Charakter und viel Geduld.
Die Natur des Islandpferdes
Bei der Ausbildung des Islandpferdes sollte Rücksicht auf dessen (körperliche) Besonderheiten genommen werden. Isländer sind erst im Alter von frühestens fünf Jahren völlig ausgewachsen, einige sogar erst mit acht Jahren. Leider sehen sie in jungen Jahren oft schon sehr stark aus – ein Trugschluss. Aus dem Leistungssport bei uns Menschen ist bekannt, dass eine zu starke Belastung des noch wachsenden Körpers bleibende Schäden hinterlässt.
Das ist beim Pferd nicht anders. Deshalb sollte in der Ausbildung folgender Leitgedanke gelten: «Früh fördern – spät fordern.» Unter «fördern» verstehe ich geraderichtende, stärkende Bodenarbeit und Longieren ohne Reiter, ruhig ein halbes Jahr oder länger. Vermeiden Sie also Kinderarbeit und lassen Sie sich sehr viel Zeit. Steigern Sie die Anforderungen nur in Minutenschritten. Ihre Geduld zahlt sich später aus.
Der moderne Isländer
Zu berücksichtigen ist ausserdem, dass sich durch die Zucht das Exterieur des Isländers verändert hat. Früher war der Isländer der Prototyp des kleinen stämmigen Pferdes. Aufgrund des kurzen Rückens, den starken Röhren und der breiten Brust sprach man ihm eine überdurchschnittliche Tragfähigkeit zu. Heute sind einige Isländer sehr langbeinig und schmalbrüstig, was die Balancefindung nicht leichter macht. Zudem muss dem Hals Beachtung geschenkt werden. Gerade kleine schmale Pferde brauchen ihn dringend als Balancestange, ein Verkürzen des Halses, z. B. im Tölt, sollte tabu sein.
Auch wenn das Erscheinungsbild des Isländers heute grösser und eleganter ist, so bleibt er in Relation ein kleines, kurzes Pferd, das oft eine erhebliche Schiefe aufweist. Diese Tatsache, gemeinsam mit der Gangveranlagung, fordert den Reiter umso mehr, sein Pferd zu gymnastizieren. Der typische Isländer mit kräftigem Hals hat noch ein anderes Problem. Er tut sich oft schon mit einer Kopf-Hals-Haltung an der Senkrechten schwer und verspannt sich. Deshalb sollten solche Pferde unbedingt mit einem geöffneten Genickwinkel geritten/gearbeitet werden. Die Beweglichkeit im Genick und damit die Ganaschenfreiheit können durch gezielte Gymnastik (Stellung im Stand, Dehnung im Stand) gesteigert werden.
Geraderichtung und Dehnung durch Stellung und Biegung
Stellung und Biegung gehören zu den elementaren Werkzeugen der Reiterei. Weder wahre Losgelassenheit noch reelle Versammlung sind ohne Stellung und Biegung möglich. Machen Sie sich bewusst: Ohne Stellung und Biegung ist kein einziger Punkt der Ausbildungsskala zu erreichen. Und um diese scheinbar schnöden Grundlagenkapitel auch eingefleischten Ovalbahnreitern oder «Ich gehe eigentlich nie auf den Platz, mein Pferd mag das nicht»-Reitern schmackhaft zu machen: Geraderichtung ist Töltarbeit! Arbeit am Tölt beinhaltet immer Arbeit an der Geraderichtung.
Ein schiefes, steifes Pony wird auch nach endlosen Runden im Tölt um die Ovalbahn ein schiefes, steifes Pony bleiben. Die Verwendung von Ballenboots ändert daran nichts. Die Ursache «am Schopf» packt nur die Dehnung der Oberlinie, die Dehnung der kürzeren Seite sowie das Anheben der vermehrt belasteten Schulter. Es geht also immer um das Herstellen von Balance.
Bedeutung der Stellung
Stellung brauche ich im Alltag ständig. Sie ist die Voraussetzung für gutes Reiten, die Grundlage sowohl für die Dehnungshaltung wie für die Versammlung. Stellung löst das Genick des Pferdes, und gemeinsam mit der Biegung kann sie den Hals zwischen den Schultern so ausrichten, dass das Pferd von der vermehrt belasteten Schulter wegkommt und sich fallen lässt. Die Stellung «repariert» also in gewisser Weise, setzt in Balance.
Dieser Aspekt ist fundamental in der Jungpferdeausbildung. Aber auch die Aufrichtung und später die Versammlung erzeuge ich durch die Stellung: Ist ein Pferd so weit ausgebildet, dass die Stellung als Biegung durch das ganze Pferd durchgeht, in der gleichseitigen Hüfte ankommt und somit auch im Hinterbein, so erreiche ich eine Beugung des Hinterbeins.
Kraftakt Tölt
Das Pferd kann zunächst immer nur ein Hinterbein beugen, deshalb sind viele Handwechsel wichtig. Um beispielsweise mit zwei gebeugten Hinterbeinen gerade antölten zu können, muss ein Pferd eine immense Kraft haben. Das gerade Antölten wird leider oft viel zu früh durch die Hand erzwungen. Die Pferde führen es aus, so gut sie können, laufen aber nicht über den Rücken.
Für mich lässt sich Stellung wunderbar mit einem Lächeln vergleichen. Ich sehe beide als eine Art Türöffner, als Wegbereiter der Leichtigkeit. Geben Sie einem Menschen ein Lächeln, und er wird sich öffnen und entspannen, geistig wie körperlich. Geben Sie einem Pferd Stellung, und es wird sich öffnen und entspannen, geistig wie körperlich. Ab diesem Augenblick haben Sie Zugang zu Ihrem Pferd.
Nicht umsonst bezeichnete Leonardo da Vinci die gerade Linie als «die Linie des stärksten Widerstands». Ich glaube nicht, dass ihm klar war, dass er mit diesem Satz ein Kernproblem der Reiterei in Worte fasste. Ein Pferd mit festem Genick entspricht einer geraden Linie, die nicht wenige Reiter mit harter Zügeleinwirkung beziehungsweise Kraft zu brechen versuchen.
Die richtige Reihenfolge
Kurt Albrecht formuliert es folgendermassen: «Nicht umsonst haben die alten Reitmeister der ‚Biegung‘ den wichtigsten Platz im eigentlichen Ausbildungsvorgang eingeräumt. Diese eingehende Beschäftigung hat unseren Vorfahren auch die richtige Reihenfolge bei der Formung und Gymnastizierung der Gelenk und Wirbelverbindungen finden lassen. Grobe Abweichungen von dieser Reihenfolge, die mit der Genick- und Halsbiegung beginnt, über die Rückenbiegung führt und schliesslich mit der Hankenbiegung ihren Abschluss finden soll, haben sich bis heute als nachteilig erwiesen.» (Kurt Albrecht: Dogmen der Reitkunst. Olms, 2001)
Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: «… haben sich bis heute als nachteilig erwiesen» – das möchte ich als Stilmittel der Untertreibung bezeichnen. Freiherr von Oeynhausen hebt die Bedeutung der von Albrecht erwähnten Genickbiegung (= Kopfstellung) hervor. Er schrieb bereits im frühen 19. Jahrhundert: «Die Kopfstellung ist das Mittel, der Gang der Zweck der Reitkunst.» Damit fasst er einen essenziellen Zusammenhang in wenige geniale Worte.
Geraderichten
In der Geraderichtung geht es darum, dem von Natur aus schiefen Pferd zu einem guten Gleichgewicht zu verhelfen. Die Muskeln beider Körperseiten sollen in etwa gleich kräftig und dehnfähig sein. Durch die Geraderichtung wird die angeborene einseitige Vorhandlastigkeit ausgeglichen, das Pferd verteilt sein Gewicht gleichmässiger auf alle vier Beine, seine Balance verbessert sich. Je besser man sein Pferd bereits am Boden lockert und geraderichtet, desto weniger Handeinwirkung wird man in der gesamten Ausbildung des Pferdes benötigen!
Für mich besteht die Ausbildung eines Pferdes, sehr grob unterteilt, aus zwei Dingen: Geraderichtung und Kraftaufbau. Letzteres geschieht beim Jungpferd zunächst «nebenbei», später gezielter. Die Geraderichtung beginnt bereits beim Führen, die wichtigsten Grundlagen werden in der Bodenarbeit am Kappzaum gelegt, und auch später im Sattel hört die Geraderichtung nie auf.
Geraderichtende Bodenarbeit
In der Skala der Ausbildung steht die Geraderichtung an sechster Stelle, also ziemlich weit hinten. Betrachtet man die herkömmliche Art der Pferdeausbildung (ausgebundenes Longieren), lässt sie tatsächlich wenig Raum, bereits früh etwas für die Geraderichtung zu tun.
Und doch ist die Geraderichtung von Anfang an wichtig und auch möglich. Die in diesem Buch vorgestellte Bodenarbeit am Kappzaum und das Longieren erlauben Mobilisation und Dehnung, was für die Geraderichtung essenziell ist. Ein Pferd, das mit geraderichtender Bodenarbeit auf das Reiten vorbereitet wurde, tritt mit einem ganz anderen Körpergefühl in die «Arbeitswelt» ein als ein herkömmlich ausgebildetes. Die körperliche Balance überträgt sich auch auf die Psyche. Fühlt es sich in seinem Körper wohl, ist es sich seiner selbst bewusst, wird es auch gelassen sein. Gleiches gilt bei (älteren) Korrekturpferden.
Dieser Beitrag erschien das erste Mal in der «Kavallo»-Ausgabe 04/2021.
«Grundausbildung von Gangpferden»
«Grundausbildung von Gangpferden – Gerade richten von Anfang an», Kirsti Ludwig, 128 Seiten, 17 x 24 cm, 64 farbige Abbildungen, Softcover, ISBN: 978-3-8404-1071-0, ab 19,95 Euro, 23 Franken.