Auf den ersten Blick schätzt man «Bella», wie sie im Stall von Barbara von Grebel in Grüningen genannt wird, nicht über 20 Jahre alt. Sie strahlt Vitalität aus. Ihre Augen sind offen und voller Vertrauen, glänzen, neugierig schnuppern die Nüstern noch Unbekanntes, und die Muskeln an ihrem Körper sind gut ausgebildet und für ihr Alter recht elastisch. Sie wirkt kerngesund. Das ist kein Zufall. «Regelmässige Fütterung und regelmässige Arbeit sind das A und O, damit ein Pferd gesund so alt werden kann», fasst Barbara von Grebel zusammen, «und es braucht ein glückliches Umfeld.» Sie kennt La Claire de Lune nun schon seit 18 Jahren, als Fünfjährige ist die Stute damals in ihren Stall gekommen. Vater ist der Oldenburger Il Capriccio, der Barbara von Grebel von Hugo Zingg zur Verfügung gestellt wurde, die Mutter Serenade CH, den sie vom Hombrechtiker Züchter Matthias Schäublin übernommen hat. La Claire de Lune hat drei jüngere Geschwister, die sie aber alle überlebt hat.
Bella sucht sich Menschen aus
«Bella ist eine Diva», beschreibt sie Corinne Rapold, Bereiterin im Stall BvG, mit grosser Zuneigung in der Stimme. Wenn sie jemanden nicht möge, verweigere sie schlicht die konstruktive Zusammenarbeit. Wie mit ihrer Besitzerin – ein sportliches Dream Team sind Barbara von Grebel und La Claire de Lune nie geworden. Bella hat sich andere Menschen ausgesucht, um sie über schwierige Sprünge zu tragen, auch wenn ihre reiterlichen Fähigkeiten noch nicht perfekt waren. Und es ist Barbara von Grebel hoch anzurechnen, dass sie dieses Nein ihres Pferdes durch all die Jahre hindurch respektiert hat, ohne eine Antwort darauf zu haben, warum die Chemie offenbar nur mit anderen gestimmt hat. «Ich hätte Claire um keinen Preis der Welt je verkauft», erklärt sie. «Es wäre mit ihr wegen ihrer speziellen Art anderswo nicht unbedingt gut gegangen. Das hätte ich ihr nicht antun können.» Diese Treue und dieser Respekt haben Bella trotz ihrem unbeugsamen Eigensinn, der keinen Druck und Zwang verträgt, ein Umfeld geschaffen, in dem sie als vollwertiges Mitglied funktionieren kann. Denn Bella ist, obwohl sie gewisse Menschen nicht wirklich akzeptiert, ein sehr menschenbezogenes und zuverlässiges Pferd.
Ein idealer Lehrmeister
Corinne Rapold hat den Draht zu Bella gefunden. Sie haben gemeinsam erfolgreich RI bestritten, bis das Pferd mit 15 Jahren in den Beritt eines anderen Lehrlings gewechselt hat. Bella müsse immer im Mittelpunkt stehen, beschreibt Corinne. Sie sei ein sehr starker Charakter. Man bekommt bei der Beschreibung den Eindruck, dass La Claire de Lune ein Pferd ist, das seinem Reiter nichts schenkt – und genau dies macht sie wohl zu einem idealen Lehrmeister. Nicht wenige von Barbara von Grebels Lehrtöchtern haben durch die Jahre hindurch von Bellas anspruchsvollen Eigenschaften profitiert und eine besondere Beziehung zu ihr aufgebaut.
So ist La Claire de Lune ein viel geliebtes Pferd, und sie weiss es. Die Freundschaften, die sich in ihrem langen Leben mit einzelnen Menschen im Stall BvG gebildet haben, sind nicht wirklich abgebrochen, und sie wird heute noch regelmässig besucht. Aktuell kann Elli, im ersten Lehrjahr im Stall BvG, von Bella‘s Erfahrung und Unbestechlichkeit viel lernen.
Wie sieht Bellas Zukunft aus? Sie verdient sie sich selbst nach und nach als Lehrpferd. Nur ein Husten hat in letzter Zeit an ihrem soliden Altersfundament gerüttelt, er ist aber folgenlos verheilt. «Ein Pferd ist dann alt», fasst Barbara von Grebel zusammen, «wenn es nicht mehr dieselben Eigenschaften hat, zum Beispiel plötzlich lammfromm ist, wenn es zuvor immer frech war. Dann weiss man, jetzt stimmt etwas nicht mehr. Wenn die Vitalität und das Interesse nachlassen. Aber Bella ist noch voll da.» La Claire de Lune profitiert von einer glücklichen Haltung, einer fairen, ihrem Alter angepassten schonenden Art des Reitens, viel Abwechslung und einer wichtigen Aufgabe, bei der sie spürt, dass sie gebraucht wird. Ein baldiges Ende ihres stimmigen Daseins ist mit ihren fitten 23 Jahren noch nicht abzusehen.
An seinem Herbstseminar im Tierspital Zürich hat sich der «Verein Forschung für das Pferd» mit alten Pferden beschäftigt, was – wie Vereinspräsident Lucas Anderes in seiner Begrüssung meinte – vor 30 Jahren noch kein Thema gewesen sei. Unter dem Eindruck eines wandelnden Ethikverständnisses machen sich heute jedoch mehr Leute Gedanken darüber, wie mit den in die Jahre gekommenen vierbeinigen Partnern umzugehen ist. Welcher Stellenwert diesem Thema zukommt, belegen allein schon die Zahlen aus der nationalen Equidendatenbank Agate: Der Anteil der über 18-Jährigen macht fast ein Viertel aller registrierten Equiden aus. Über Arthrosen und Sehnenerkrankungen referierte Dr. Michelle Jackson, Dr. Katharina Birkmann nahm sich dem Cushing und anderen Hormonerkrankungen an, und Dr. Muriel Federici ging auf Zahnprobleme ein. Die Juristin Claudia Steiger führt nebenberuflich einen Gnadenhof und provozierte mit der Frage «Sind Altersweiden die Lösung für unsere Pferde?» Lucas Anderes setzte sich zum Abschluss des aufschlussreichen Nachmittags mit «Wann dürfen, wann sollen und wann müssen wir die Pferde euthanasieren?». Zu einer klaren Antwort kam er verständlicherweise nicht. Eine Entscheidungshilfe bringt für ihn erst der Moment, wo der Zwang zu leben für das Pferd die grössere Belastung sei als der Zwang zu sterben.