Im Stall nehmen Pferde kaum noch Schaden

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Wenn wir gelernt haben, wie Pferde zu denken und zu fühlen, werden wir auch imstande sein, Ställe nach ihren Bedürfnissen zu bauen. Entsprechende Leitplanken setzt die Tierschutzverordnung, die zwingend festhält: «Pferde müssen Sicht-, Hör- und Geruchkontakt zu einem anderen Pferd haben.» Und im Weiteren schreibt die Verordnung über die Haltung von Nutztieren und Haustieren aus dem Jahre 2008 vor, welche Mindestmasse bezüglich Fläche und Höhe bei Pferdeställen einzuhalten sind, dass die -Anbindehaltung gänzlich verboten ist, dem Lauftier Pferd freien Auslauf ermöglicht wird oder über welche Kenntnisse Pferdehalter verfügen müssen. Bis Ende August sind nun alle Pferdeställe an die Tierschutzverordnung anzupassen. 
Für lange Zeit tauchte die Pferdhaltung in der Tierschutzverordnung gar nicht auf. Die Bedingungen für die Pferde waren im Vergleich zu anderen Tierarten in den meisten Fällen nicht dramatisch. Denn schon in den frühen 60er-Jahren schickte die Verhaltensforschung Impulse, wie Pferde artgerechter gehalten werden könnten. Rund die Hälfte der Pferde musste damals noch angebunden gegen eine Wand starren, wenns in der Krippe nichts zu fressen gab. Zu jener Zeit war die Pferdehaltung vorwiegend auf unsere Bedürfnisse ausgelegt: kleinstmöglicher Platzbedarf, geringer Zeitaufwand, angenehme Stalltemperaturen. Doch unter dem Einfluss veränderter ethischer Wertvorstellungen zeigte sich die Allgemeinheit vermehrt achtsamer gegenüber dem Tierwohl, was sich positiv auf die Haltung niederschlug.
Schon sehr früh andere Vorstellungen von der Pferdehaltung hatte der Architekt Ulrich Schnitzer aus Karlsruhe, der zuerst in einer Studentenarbeit und später in seiner Dissertation «Untersuchung zur Planung von Reitanlagen» gegen die Anbindehaltung war und den sozialen Kontakt und die freie Bewegung der Pferde nicht mehr als unumgänglich einschränken wollte. Praktiker und Wissenschafter begannen zusammenzuarbeiten und öffneten damit nicht nur Türen und Fenster für ein besseres Stallklima, sondern auch für neue Haltungsformen wie die Gruppenhaltung.
Die Erkenntnisse über die Bedürfnisse in der Pferdehaltung stiessen bei der Mehrheit der Besitzer auf offene Ohren. Es war eindrücklich zu verfolgen, wie Stallbesitzer ihre Betriebe um- und auszubauen begannen – auch ohne zwingende Vorschriften durch den Gesetzgeber. Das Komfortangebot entsprach den Bedürfnissen der Besitzer: In Pensionsställen ohne Ausläufe und Weide blieben die Boxen leer.
Gruppenhaltung als Renner
Zur Pferdehaltung hat Professor Ulrich Schnitzer vor zwei Jahren einen Artikel unter dem Titel «Fortschritte mit Fehleinschätzungen» in der Zeitschrift «Piaffe» veröffentlicht. Der pferdebegeisterte Architekt, der sich auch in verschiedensten Publikationen mit Fragen zur klassischen Reiterei, zum sozialen Zusammenspiel von Mensch und Pferd oder zum Hufbeschlag befasste, kommt darin zum Schluss, dass die Gruppenauslaufhaltung seither zum grossen Renner -geworden ist. Denn: «Unter der Zustimmung des organisierten und des amtlichen Tierschutzes entstehen Gruppenställe zu Hauf. Vor allem hat die im Wandel befindliche Landwirtschaft damit einen willkommenen Wirtschaftszweig erschlossen. Das kann man als grossen Erfolg jener Bemühungen werten, die in den 70er Jahren ihren Anfang nahmen. Doch die Begeisterung sollte sich in Grenzen halten. Der Grund dafür ist die verbreitete Unterschätzung der Aufgaben, die mit der Gruppenhaltung verbunden sind. Das gilt nicht nur für deren Anlage und Ausstattung, sondern ganz besonders hinsichtlich der Betreuung dieser Systeme.

Allgemein herrscht das Vorurteil, die Gruppenhaltung sei

  • das natürlichste
  • das kostengünstigste und
  • das zeitsparendste Haltungssystem

Nein, natürlich ist auch eine Gruppenhaltung keinesfalls, wie folgende Beispiele zeigen:

  • Naturnah lebende Pferd leben in -gewachsenen Familien- und Jung-gesellengruppen, der Austausch -erfolgt innerhalb grundsätzlich passender Pferde. Im Gruppenhaltungssystem werden einander wildfremde Tiere zusammengebracht, auch ganz verschiedene Pferde vom Pony bis zum Araber, vom Iberer bis zum Kaltblüter, junge und alte, kräftige und schwache, Stuten und Wallache.
  • Unter naturnahen Lebensbedingungen ist unbegrenzter Raum vorhanden, um auszuweichen und sich wieder allmählich zu nähern – aber selbst die grosszügigste Auslaufhaltung verfügt nur über begrenzten Platz mit der Folge, dass der Individualabstand nicht immer frei wählbar ist und dem Ausweichen Grenzen gesetzt sind.
  • Unter naturnahen Lebensbedingungen spielt die Rangordnung bei der Futteraufnahme ebenso wenig eine Rolle wie die Notwendigkeit individueller Futterzuteilung. Im Haltungssystem ist es eine besondere Aufgabe, individuelle Futterzuteilung ohne Einfluss der Rangordnung zu gewährleisten. Und im Übrigen wollen wir ja aus einem einfachen Grund gar keine natürlichen Verhältnisse: In der Natur gibt es Starke und Schwache, und dass sich der Starke durchsetzt und der Schwache benachteiligt ist, liegt daran, dass die Arterhaltung das höherrangige Interesse ist. Wir hingegen, als im Tierschutz Engagierte oder als Pferdehalter, zielen darauf ab, jedem Individuum die gleichen Entwicklungschancen zu geben – ein ganz und gar nicht natürliches Anliegen.
    Es ist deshalb eine gewaltige Herausforderung, einerseits die Nachteile des Haltungssystems gegenüber naturnahen Bedingungen auszugleichen, und umgekehrt zugleich Nachteile natürlicher Lebensbedingungen für das Einzeltier auszuschalten.

Gruppengefühl auch im Boxenstall
Die jahrzehntelange Erfahrung von Ulrich Schnitzer im Umgang mit Pferden zeigt sich in seinen Ausführungen über die Boxenhaltung. Dass die Einzelboxenhaltung unter grundsätzlichen Beschuss geraten ist, lässt sich für Schnitzer nicht rechtfertigen. Vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, dass Pferde in der Einzelboxenhaltung ebenso zum Gruppenerlebnis kommen: «Man kann das leicht feststellen an der Begrüssung Neuankommender oder gegenseitigem Rufen, wenn ein Pferd zur Arbeit aus dem Stall geht, an der Unruhe, wenn mehrere Pferde gleichzeitig den Stall verlassen. Der ganze Stall kann in Aufruhr kommen, wenn mit einem Pferd hörbar oder sichtbar etwas nicht stimmt. … Zwischen Boxennachbarn entstehen oft enge Bindungen. Verglichen mit dem Zusammenleben unter naturnahen Bedingungen kann man dieses Stalldasein mit einem Zustand des Nichtbedrohtseins vergleichen, bei welchem der enge Verband gelockert ist, ohne dass sich die Tiere aus den Augen verlieren.»
Unbestreitbar bietet die Haltung in Einzelboxen den Betreuern wie auch den Pferden etliche Vorteile. In kaum einem Reitstall kommt es vor, dass alle Pferde gleichzeitig von ihren Besitzern in den Ausgang geführt werden. Schon ein aus der Gruppe genommenes Pferd führt zu einer Veränderung im Verband und lässt Unruhe aufkommen. Boxenpferde dagegen sind davon nicht betroffen, zudem ist im Schutz des geschlossenen Boxenunterteils jederzeit ein ungestörtes Ausruhen möglich. Wohl mögen moderne Stalltechniken wie Gesichtserkennung die individuelle Futterzuteilung optimieren, in der Einzelbox ist aber auch dieses Problem einfacher zu lösen. Systembedingt ist die Verletzungsgefahr bei Pferden in der Einzelbox wesentlich tiefer als in der Gruppe. Mit jedem Quadratmeter zusätzlicher Freiheit nehmen die Verletzungen zu. Letztlich ist in Betracht zu ziehen, dass in einem Stall nicht nur Pferde gehalten werden. Zu jedem Pferd gehört mindestens auch ein Mensch, der ebenfalls seine Eigenart mitbringt und in die Gruppe zu integrieren ist – mannigfaltig sind die Beweggründe, die heute einen Menschen animieren, sich ein Pferd zu halten.
Für Professor Ulrich Schnitzer sollte die Wahl des Stallsystems für Reitställe und Pensionspferdehaltungen nach den Gegebenheiten und der -Ausrichtung eines Betriebes erfolgen. Wichtigste Kriterien sind für ihn
die Pferderassen, Grösse, Geschlecht usw., die Nutzung (oder Nichtnutzung), die Grösse des Gesamtbestandes, die Qualifikation der Betreuer. Optimal wäre natürlich, wenn eine Kombination von Paddockboxen und Gruppenauslaufhaltung realisiert wer-den könnte. Nachdem mit strengen Tierschutzvorschriften die schlimmsten Mängel eliminiert worden sind, lässt sich nach Schnitzer heute nicht mehr behaupten, die meisten Pferde würden «kaputtgehalten». Der Ursachenschwerpunkt liegt für den Verschleiss von Pferden auf einem anderen Bereich!

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