Von Dr. Stéphane Montavon, DVM, CERP./ Stress bei Pferden ist eine komplexe physiologische und verhaltensbezogene Reaktion auf Reize, die als bedrohlich oder störend empfunden werden, unabhängig davon, ob sie aus der natürlichen Umgebung, aus Interaktionen mit Menschen oder aus Bedingungen im Zusammenhang mit der Nutzung des Pferdes, wie Reiten oder Fahren, stammen. Die Erforschung von Stress bei
Pferden ist sowohl für das Verständnis der zugrunde liegenden biologischen
Mechanismen als auch für die Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und
Tierschutzbedingungen von grosser Bedeutung.

In freier Wildbahn lebt das Pferd in einer natürlichen Umgebung, in der es verschiedenen Stressfaktoren ausgesetzt ist, darunter die Anwesenheit von Raubtieren, klimatische Schwankungen, die Nahrungssuche und soziale Interaktionen innerhalb der Herde. Diese Situationen lösen eine neuroendokrine Kaskade aus, insbesondere durch die Ausschüttung von Adrenalin und Kortikosteron, die eine sogenannte „Flucht- oder Kampf”-Reaktion auslösen. Das freilaufende Pferd entwickelt so Verhaltensanpassungsmechanismen wie erhöhte Wachsamkeit, schnelle Flucht oder auch Beruhigungssignale, um den sozialen Zusammenhalt zu erhalten und aggressive Eskalationen zu vermeiden. Diese Dynamik fördert ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen dem für das Überleben notwendigen akuten Stress und dem für die Erholung notwendigen Ruhezustand.

Der Stress, der im Zusammenhang mit Reiten oder Gespannfahren auftritt, ist anderer Natur. Er resultiert aus oft wiederholten körperlichen und geistigen Belastungen und kann durch ungeeignete Praktiken verstärkt werden. Die Belastung durch das Tragen eines Reiters übt eine Kraft auf die Wirbelsäule aus, deren Verteilung und Intensität sich direkt auf das Wohlbefinden und die Reaktionsfähigkeit des Pferdes auswirken. Bei der Arbeit vor der Kutsche muss das Pferd nicht nur die Last des Geschirrs und den Zug des Wagens tragen, sondern auch koordinierte motorische Anforderungen erfüllen, die eine komplexe Haltungs- und neurologische Anpassung erfordern.

Der Einfluss des Reiters ist ein entscheidender Faktor für die Auslösung und Modulation von Stress beim Pferd. Der Muskeltonus, die Körperhaltung, die Hilfen (Beine, Hände, Körpergewicht) und der emotionale Zustand des Reiters stehen in Wechselwirkung mit der Sensibilität und Empfänglichkeit des Pferdes. Ein erfahrener, ruhiger und geschickter Reiter weiss widersprüchliche Signale und Spannungen zu minimieren und trägt so dazu bei, die Angst des Pferdes zu verringern. Umgekehrt löst ein gestresster oder ungeschickter Reiter Abwehrreaktionen wie Flucht, Muskelversteifung oder Widerstand gegen Hilfen aus, was zu einem deutlichen Anstieg des Stresses führt. Die sozio-emotionalen Interaktionen zwischen Pferd und Reiter, insbesondere der psychologische Spiegeleffekt, verstärken diese Dynamik noch zusätzlich.

Die objektive Bewertung des Stressniveaus bei Pferden erfordert den Einsatz strenger methodischer Instrumente. Unter diesen sind Ethogramme ein Instrument der Wahl. Dabei handelt es sich um detaillierte und standardisierte Beobachtungsraster, in denen typische Verhaltensweisen der Art in verschiedenen Situationen erfasst werden. Zu den Stressverhalten zählen beispielsweise übermässiges Gähnen, flüchtiger Blick, angelegte Ohren, stereotype Wiederholungsbewegungen (wie der Bären-Tick), Zittern, Schwitzen oder beschleunigte Atmung. Die Quantifizierung dieser Verhaltensvariablen ermöglicht es, Korrelationen mit physiologischen Markern (Herzfrequenz, Cortisolspiegel) herzustellen und so ein multidimensionales Verständnis von Stress bei Pferden zu gewinnen.

Darüber hinaus erhöhen ergänzende Ansätze, die Videoanalyse, Herzfrequenzmessung per Monitor oder die Bestimmung des Cortisolspiegels im Speichel kombinieren, die Zuverlässigkeit der Diagnosen erheblich. Diese hybriden Daten erleichtern die Entwicklung von Stressmanagementprotokollen, die auf jedes Pferd individuell zugeschnitten sind und dessen Temperament, Erfahrung und Einsatzkontext berücksichtigen. Beispielsweise profitiert ein Pferd, das regelmässig zu Wettkämpfen transportiert wird oder sich in neuen Umgebungen aufhält, von einem Programm zur schrittweisen Desensibilisierung in Verbindung mit Entspannungstechniken.

Der ethologische Ansatz legt auch nahe, die Bedeutung des Sozialverhaltens und der Interaktionen innerhalb der Art für die Stressregulation zu berücksichtigen. Reit- oder Kutschpferde, die in Boxen oder isoliert gehalten werden, können aufgrund des Mangels an regelmässigen sozialen Kontakten und Umweltreizen pathologische Verhaltensweisen entwickeln, die mit chronischem Stress zusammenhängen. Diese Defizite können sich in Koliken, Magengeschwüren oder Verhaltensstörungen äussern und unterstreichen den engen Zusammenhang zwischen emotionalem Wohlbefinden und körperlicher Gesundheit.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Stress bei Pferden ein multifaktorielles Phänomen ist, das von ihrem natürlichen Zustand, ihren Nutzungsbedingungen und der Qualität der menschlichen Interaktionen beeinflusst wird. Die Beherrschung seiner Analyse mithilfe von Instrumenten wie Ethogrammen und der Messung physiologischer Parameter ist unerlässlich, um Strategien zur Verbesserung des Wohlbefindens von Pferden zu entwickeln. Die Anpassung der Arbeitsmethoden, die Förderung eines umfassenden Wissens über das kanalisierte Verhalten und die Schaffung einer bereichernden Umgebung sind wesentliche Hebel, um Stress zu reduzieren und die Leistung und Gesundheit von Pferden unabhängig von ihrer Lebensweise zu optimieren.

Weitere Informationen: https://equiethicsinternational.com/

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