Zum Themenschwerpunkt “Intelligenz der Tiere” hier die Langversion des Beitrags von Christoph Meier.
Hat dein Pferd einen Begriff vom Begriff ‘Gras’?
Wenn nein, dann ist es dumm! So ähnlich klingt es oft, wenn tierferne Philosophen sich über die Intelligenz der Tiere auslassen. Da werden frohgemut Birnen mit Äpfeln verglichen. Man geht von menschlicher Intelligenz aus und schaut, was man davon bei welchem Tier in welchem Ausmass vorfindet. Das führt dann bis zu Vergleichen des Hirngewichts in Relation zum Körpergewicht. Nur hat man inzwischen die Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten, Zusammenhänge zu erkennen und Probleme zu lösen, auch bei Wesen vorgefunden, die weder über ein Gehirn noch über ein Nervensystem verfügen. Und die Zahl der Quantenphysiker wächst, die behaupten, der Urstoff des Universums sei nicht Materie, sondern Information. Der Transfer von Information scheint offenbar auch ohne Gehirne, ohne abstrakte Begriffe und menschliche Verbalsprache seit Jahrmillionen wunderbar zu funktionieren. Sind Tiere, Pflanzen, Zellen dumm, weil sie nicht über unsere Verbalsprache verfügen und keine Atombomben bauen können?
“Ich weiss, dass ich nichts weiss”
Der österreichische Physiker Anton Zeilinger sagt, die Naturwissenschaften stünden noch völlig am Anfang und zählt gerne auf, was nur schon in seinem eigenen Fach alles völlig unklar sei. Vielleicht wäre es gar nicht so unklug, wenn auch wir Rösseler uns etwas zurücknähmen mit unserem vermeintlich ‘gesicherten Wissen’ über unsere vierbeinigen Partner. Der griechische Marktplatzphilosoph Sokrates brachte es vor fast 2500 Jahren auf den Punkt mit dem legendären Ausspruch: “Ich weiss, dass ich nichts weiss.” Damit war er aber schon deutlich weiter als heute viele Zeitgenossen – auch unter den Pferdeleuten! –, die glauben, haufenweise Dinge rund um die Pferde, ihre Bedürfnisse und ihr Stressempfinden ganz sicher und für alle Equiden und ihre Menschen gleichermassen gültig zu wissen. Ich habe mich mit vielen Profi-Reitern über das Thema unterhalten. Kein einziger plusterte sich auf mit allgemeingültigen Rezepten. Alle sprachen von der faszinierenden Verschiedenheit aller Pferde und wie sie auch nach vielen Jahren noch täglich dazu lernten.
Slevi und Deborah auf der Frauenfelder Allmend. Foto: www.honigleupictures.ch
Vielleicht wäre es angebracht, uns einzugestehen, dass wir auch nach ein paar tausend Jahren Partnerschaft mit dem Pferd noch ganz am Anfang stehen, dass wir erst gerade den Hauch einer Ahnung haben von der Intelligenz der Pferde und anderer Tiere, einen ersten Schimmer, wie sie innerhalb und ausserhalb ihrer Gattung mit anderen Tieren kommunizieren, was für ‘Kommunikationsmodi’ sie benützen und so weiter. Wir können mit unseren Pferden arbeiten, Erkenntnisse sammeln, unsere Erlebnisse austauschen – und uns jeden Tag neu überraschen lassen von der Verschiedenheit der Tiere und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, Probleme zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen. Wir können mit einzelnen Tieren Tests machen, aber von diesen wenigen Resultaten gleich auf eine ganze Gattung zu schliessen, ist wenig ergiebig und führt meist zu hanebüchenen Vorurteilen, die wir dann mit dem klug klingenden Spruch “Studien haben gezeigt, dass…” verbreiten können. Bei jeder Form von Verallgemeinerung ist grösste Zurückhaltung am Platz, das gilt bei Statistiken mit Menschen genauso wie bei Experimenten mit Tieren. Keine zwei Tiere sind genau gleich, so wenig wie zwei Menschen genau gleich sind. Die Fehlerquote bei diesem Vorgang der Extrapolation, dem Schliessen von Wenigen auf Viele, ist gross. Ich schlage deshalb bei der Beschäftigung mit tierischer Intelligenz eine gewisse Zurückhaltung bei der Formulierung unserer Erkenntnisse vor. Diese urwissenschaftliche Haltung zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir alle unsere Aussagen relativieren: “Ich finde…”, “Meines Erachtens…”, “Bei meinen Tests haben die paar wenigen Teilnehmer Folgendes gezeigt…”
Bist du eine Horsewoman, ein Horseman?
Erstaunlicherweise findet man bei den Gurus und Besserwissern, die das Rösselervolk mit ihren absoluten, allgemeingültigen und ‘durch wissenschaftliche Studien bewiesenen’ Weisheiten beglücken, selten einen Spitzensportler. Die richtig guten Reiter scheinen eher zu wissen, dass es keine alleinseligmachenden Rezepte gibt. Diese Rezepte kommen meistens von sportlich wenig erfolgreichen Leuten. Am häufigsten habe ich solche mit der Unfehlbarkeitsanmassung des Papstes daherkommenden Sprüche von sportfeindlichen Wohlfühl-PriesterInnen gelesen, die zu wissen glauben, dass Pferde wenig intelligent seien, deshalb unserer permanenten Fürsorge und Überwachung bedürften und von so gruseligen Sachen wie Leistung ferngehalten, ja gerettet werden müssten. Meist haben solche Gurus dann einen grossen Fan-Club von Leuten, die ein vergleichbares ‘frisch gestilltes Baby’-Bild von Pferden haben und reiterlich ähnlich erfolglos unterwegs sind wie die grosse Priesterin oder der unfehlbare Allwissende. Ich empfehle Vorsicht vor jeglichen Aussagen mit absolutem Gültigkeitsanspruch, nicht nur, aber auch, wenn es um Pferde und ihre Intelligenz geht. Und ich wage die These, dass man eine echte Horsewoman gerade daran erkennt, dass sie neugierig bleibt, sich immer wieder von ihren Tieren überraschen lässt und bis zum letzten Atemzug bereit ist, dazu zu lernen.
Was ist tierische Intelligenz?
Es gibt auch für die menschliche Intelligenz keine allgemeingültige Definition, oft wird in verschiedenste ‘Intelligenzen’ unterteilt, aber die Betonung liegt meist auf Memorisierungsvermögen und Kombinatorik, also der Fähigkeit, im Gedächtnis abrufbare Daten so zu verknüpfen, dass damit Probleme gelöst werden können. Einfacher gesagt: Intelligent ist, wer innert nützlicher Frist Probleme lösen kann. Auf die Tierwelt übertragen, könnten wir formulieren: Tierische Intelligenz ist die Fähigkeit, die für ihre Gattung und ihr Umfeld spezifischen Probleme situationsadäquat zu lösen und für sie relevante Zusammenhänge zu erkennen. – Ich möchte aber bereits in der Definition zeigen, dass auch tierische Intelligenz bei entsprechender Förderung wachsen kann – und dass Tiere wie Menschen gerne spielen und dabei ihren Spass haben. Hier also mein optimierter Definitionsvorschlag:
Tierische Intelligenz ist die Fähigkeit von Tieren, die eigenen physischen und mentalen Möglichkeiten zu optimieren zur Sicherung des Überlebens, zur Kommunikation mit anderen Entitäten und zum Geniessen von Spiel und Spass.
‘Die eigenen physischen und mentalen Möglichkeiten…’: Damit schliessen wir die unergiebige Vergleicherei zwischen Tieren mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen aus und messen die Tiere auch nicht an ihrer Fähigkeit, spezifisch menschliche Probleme zu lösen. Es geht also nicht darum, die umwerfenden Leistungen einer Hundenase mit der vergleichsweise lächerlichen Riechfähigkeit des Menschen oder die Fortbewegungsgeschwindigkeit und Ausdauer eines Rennpferdes mit den diesbezüglich bescheidenen Fähigkeiten eines Menschen oder einer Schildkröte zu vergleichen. Es geht darum, zu schauen, was ein Tier aus seinen Möglichkeiten macht – und was wir beitragen können zur Entwicklung seiner Fähigkeiten, die wir an ihm lieben, wenn wir mit ihm zusammenarbeiten wollen.
Gemeinsam Probleme lösen
Wir geben beispielsweise dem Hund Gelegenheit, seine Riechfähigkeit und den Spass, den viele Hunde an Riech-Aufgaben haben, zum Lösen von Problemen einzusetzen, die auch uns nützen. Genauso können wir die Bewegungsfähigkeiten des Pferdes und den Spass, den die meisten Pferde am Sich-Bewegen haben, für die Lösung von Aufgaben einzusetzen versuchen, die auch uns nützen oder Freude machen. Aber in beiden Fällen gilt es, die Verschiedenheit innerhalb der Gattung zu beachten – allerdings ohne zu glauben, alle Vollblüter würden gern galoppieren und alle Kaltblüter gern einen schweren Wagen ziehen. Das macht es doch so unheimlich spannend, dass wir uns den Erfolg mit unserem Sportpartner nicht einfach mit ein paar im Voraus erworbenen Kenntnissen kaufen können. Es sind am Schluss unzählige Faktoren, die dazu beitragen, dass wir zusammen mit unserem Pferd ein bestimmtes Problem lösen, im Idealfall sogar nachhaltig immer wieder lösen können. Und das Faszinierendste daran ist, die körperlichen und die mentalen Möglichkeiten beider Individuen so in Übereinstimmung zu bringen, dass wirklich erstaunliche Team-Leistungen möglich werden. Das braucht aber Geduld, Ausdauer, Einsatz und Leistungsbereitschaft von beiden Partnern – deutlich mehr, als wenn wir uns beide von jeglicher Anstrengung, von aller Kommunikation und Spiel und Spass fernhalten.
Spiel und Spass?
Wichtig scheint mir beim gemeinsamen Aufgabenlösen auch der Haushalt der Ressourcen. Kein Mensch und kein Tier kann rund um die Uhr alles abrufen und zeigen, was er bzw. es ‘draufhat’. Wenn wir dem Haustier den Kampf ums Überleben weitgehend abnehmen, können Ressourcen freiwerden für Kommunikation, Spiel und Spass. Der Schluss ist aber gewagt und wir kennen alle Hengste, Leitstuten, Hunde und Katzen, für die der Überlebenskampf auch Abenteuer, Herausforderung – und damit auch ein Element von ‘Spiel und Spass’ bedeutet. Auch die Kommunikation – im weiten Sinne: jegliche Wahrnehmungsdeutung – erhält beim Überlebenskampf eine ganz wichtige Bedeutung. Diese Kategorien sind nicht streng getrennt, sondern alle miteinander verquickt. Aber rein zeitlich können wir unseren Haustieren schon etwas Energie freischaufeln, wenn sie sich nicht den ganzen Tag um die Futtersuche oder um die Sicherheit der Herde, des Rudels kümmern müssen. Und in dieser gewonnenen Zeit können wir mit ihnen arbeiten. Dabei haben wir im Hinterkopf das, was wir zu wissen glauben über ihre physischen und mentalen Möglichkeiten – immer bereit, dieses ungesicherte Wissen zu ergänzen, zu verwerfen, neu zu fassen, uns überraschen zu lassen. Diese bescheidene, aber durchaus neugierige und experimentierfreudige Haltung möchte ich einnehmen, wenn ich mit Tieren arbeite.
Eitel oder dumm?
Leute, die mit todsicheren Rezepten hausieren, haben oft nur ökonomische Interessen. Wie alle Verkäufer wollen sie Kunden generieren. Und wenn es gelingt, der andächtig lauschenden Gemeinde zu verklickern, dass man nur ihre Produkte erwerben oder ihrem Unterricht folgen müsse, um endlich ‘richtig’ zu reiten, ein stets gesundes und leistungsbereites Pferdchen zu haben, ist ihr Ziel erreicht. In einer freien Marktwirtschaft ist das selbstverständlich erlaubt und jeder selbst verantwortlich, wenn er darauf hereinfällt. Aber oft wirken diese selbsternannten Propheten auch schlicht eitel und etwas dümmlich. Und ihre Jünger plappern einfach nach, was sie gehört, gelesen oder weihevoll eingetrichtert bekommen haben. So der dahingeworfene Satz, man wisse ja, dass die absolute Lieblingstätigkeit des Pferdes das Fressen sei. Jeder erfahrene Rösseler kennt Beispiele, die zeigen, dass dies Quatsch ist. Wenn ein Pferd vor dem Sporteinsatz steht, einen Weidekameraden oder einen Boxennachbar vermisst, wenn es übertrainiert oder krank ist, dann kann es sogar schwierig werden, es an die Krippe zu locken. Ich habe sogar einen Fall erlebt, wo eine Stute ihrer verstorbenen Besitzerin nachtrauerte und nicht mehr fressen wollte. Erst als man ihr ein Tuch um den Hals legte, das nach der Besitzerin roch und die Musik spielte, die sie im Stall immer hörte, begann sie wieder zu fressen. Aber auch diese Erkenntnisse kann man nicht auf andere Pferde ausdehnen. Sie sind individuell so verschieden, wie wir das auch sind. Es ist unheimlich spannend, wenn wir uns austauschen über unsere Erfahrungen mit unseren geliebten Pferden, immer mit der Bereitschaft, Neues zu hören, zu lernen und Vorurteile zu revidieren – oder noch besser: gar keine Vorurteile mehr zu fassen, sondern wie alle guten Wissenschaftler mit der Einstellung an die Arbeit zu gehen: “Stand des heutigen Irrtums ist…”.
Die Forscherin EB Hanggi kommt in ihrer Studie ‘The Thinking Horse: Cognition and Perception’ (www.equineresearch.org/support-files/hanggi-thinkinghorse.pdf) zum Schluss, dass das Pferd durchaus Informationen über Wahrnehmungen, die es nur mit einem Auge gesehen hat, ans Hirn in einer Weise weitergibt, dass die Information, wenn sie dann vom andern Auge aufgenommen wird, für das Hirn nicht neu, sondern bereits verarbeitet ist. Die Studie zeigt also das Gegenteil von dem, was z.B. der Dualaktivierungs-Theorie zugrunde liegt. Auch die Resultate dieser Studie werden vielleicht irgendwann wieder von einer neuen über den Haufen geworfen – also werbe ich einmal mehr um wissenschaftliche Bescheidenheit. Denn wir beeinflussen als Experimentatoren das Ergebnis unseres Experiments. Wenn wir etwas beweisen wollen, ist die Versuchung gross, die Übung, das Experiment so anzulegen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit dabei das herauskommt, was wir bereits in unserem Vorurteil als ‘das Richtige’ erkannt zu haben glauben. Und wer das Gegenteil beweisen will, tut dasselbe. So kann es dazu kommen, dass die gleichzeitige Wahrnehmung derselben Ereignisse zu völlig unterschiedlichen Interpretationen führt. Wir können nicht ‘objektiv’ wahrnehmen, auch nicht mit dem Objektiv der Kamera. Wir interpretieren immer, bringen unsere vorgefassten Meinungen in die Beobachtung hinein.
Tschüss Vorurteile
Wir könnten doch in unserer täglichen Arbeit versuchen, uns selbst auf die Schliche zu kommen und auch unseren Pferden gegenüber nicht zu viele Vorurteile zu hegen, nicht von ein- oder zweimal auf ‘immer’, nicht vom Verhalten unseres Pferdes auf alle Pferde zu schliessen, sondern neugierig zu bleiben auf das, was uns andere von ihren Erlebnissen mit ihren Pferden erzählen, jederzeit bereit, etwas dazu zu lernen, etwas neu, anders anzuschauen, die erhaltenen Impulse zu selektionieren und dann das, was wir für gut befinden, gezielt in unsere Arbeit einzubauen. Niemandem blind Glauben schenken, auch uns selbst nicht – das wäre die Devise. Uns jeden Tag neu von der Intelligenz unserer Tiere überraschen lassen, wach bleiben auf die Art, wie es mit uns kommuniziert, wie es zeigt, woran es Spass hat.
Christina Liebherr mit No Mercy.
Stress für den einen, Spass für den andern
Ich hatte ein Pferd, das – nach der Arbeit abgesattelt und abgezäumt – aus purem Vergnügen nochmals über alle herumstehenden Sprünge fetzte. Die Top-Springreiterin Christina Liebherr sagte von ihrem Spitzenpferd No Mercy, ein Parcours von 150cm sei für ihn kein Stress, im Gegenteil, sie habe den Eindruck, es mache ihm Spass, aber allein in der Halle gelassen zu werden, sei für ihn Horror und er gerate regelrecht in Panik. Das ist wohl für einige andere Equiden eher umgekehrt. Mein CC-Pferd Easy verweigert Karotten, die aus derselben Jackentasche kommen, in der auch ‘Hunde-Gutis’ sind. Der Boxennachbar ist da unkompliziert und mampft die gleichen Karotten mit Vergnügen. Wir hatten einen Jack Russell, der rohes Fleisch ablehnte. Lieber was aus der Büchse. Und die kluge CC-Stute Mykena schaute uns solange beim Öffnen und Schliessen der stromführenden Weidezäune zu, bis sie es selbst beherrschte – also zumindest das Öffnen. Sie packte den Handgriff mit dem Maul, drehte ihn geschickt leicht nach oben, schmiss ihn zur Seite und trollte sich seelenruhig auf die Nachbarweide, wo noch etwas mehr und bestimmt feineres Gras wuchs. Dieselbe Dame war auch höchst reinlich und plazierte alle Bollen immer schön in einer Ecke auf dem Auslauf. Leider haben die Herren im Stall ihr das nicht abgeschaut. Weiter gab es in unserem Stall ein Pony namens ‘Ausbrecherkönig’. Er öffnete jede Türe, kroch notfalls unter Zäunen durch – auf jeden Fall erreichte er sein Ziel mit einer Regelmässigkeit, die ihn wirklich zum ‘König’ machte. Als ich den Mut unserer Pferde einmal testen wollte, kam ich auf die bescheuerte Idee, einen grossen, luftgefüllten Wasserball auf die Futterkrippen zu legen – natürlich nachdem ich für die Pferde sicht- und hörbar das Kraftfutter in die Krippe gegeben hatte. Der eine Wallach schmiss den Ball sofort mit einer einzigen Bewegung der Nase weg, der andere schaute sich das Ganze zuerst genau an und schob den Ball dann vorsichtig zur Seite – und der Dritte blieb verschüchtert in der Boxenecke stehen und verdrückte sich schliesslich in den Auslauf. Nur: so aussagekräftig war der Test nicht. Denn der Dritte, der offenbar lieber aufs Fressen verzichtete als sich mit dem grauslichen Ball anzulegen, ging viele grosse Prüfungen und nahm sogar an olympischen Spielen teil. In seinem Job war er also durchaus mutig. Kennen wir das nicht von Machomännern und Topsportlern, die lieber ihre Zähne verfaulen lassen, als sich auf den Schreckensstuhl beim Zahnarzt zu setzen?
Der Witz ist, dass es mit einer offenen Einstellung viel spannender bleibt im Umgang mit unseren Tieren. Wieso scheint der eine Hund zu wissen, dass ich es bin, der nach Hause kommt, der andere nicht? Wieso beginnt mein Pferd schon einen Kilometer bevor wir im Stall oder beim Trainer ankommen, im Hänger zu scharren? Dann die Freundschaften unter Pferden. Warum kraulen sich die einen schon nach kurzer Zeit auf dem Auslauf und die andern kicken wütend gegeneinander und gehen mit gebleckten Zähnen aufeinander los? Was haben die sich wohl ‘gesagt’ vorher? Und die energetische Kommunikation, die Ausstrahlung oder das Charisma eines Tieres: Was macht die kleine alte Stute zur Chefin auf der Weide? Wieso unterzieht sich ihr sogar der alte Star, der früher der unangefochtene Weide-Macho war? Wie kann ein kleiner, aber grössenwahnsinniger Jack Russell einen Dobermann und einen Deutschen Schäfer vertreiben?
Wieso fängt der eine Hund schon im Welpenalter an, Äste und halbe Baumstämme rumzuschleppen, und den andern interessiert das nicht? Wieso reagiert der eine Hund auf Spielzeug und der andere gähnt vor Langeweile, wenn man einen Ball wirft? – Viele erklären unterschiedliches Tierverhalten mit ‘Genetik’ und ‘Instinkt’. Und wenn es dann auch bei gleicher Rasse, ja sogar gleichem Wurf völlig unterschiedliche Welpen gibt und auch das Umfeld-Argument nicht sticht, da die Welpen zusammen aufwachsen, verheddern sie sich mit den Argumenten. Wenn wir also sogar bei unseren allernächsten Haustierfreunden so wenig wissen, wie wenig ist es denn erst bei den tausend anderen Tieren? Wieso wissen alle Vögel in einem dicht fliegenden Schwarm, wann sie abbiegen müssen? Es ist nicht so, dass der vorderste blinkt und alle folgen ihm nach. Alle tun es synchron, sonst gäbe es viel mehr Rempeleien und Zusammenstösse in der Luft. Ist es ein magnetisches Feld, das einen Impuls gibt? Wir haben keine Ahnung. Wieso wissen Sonnenblumen in einem riesigen Feld alle gleichzeitig, wenn an einer Ecke ein Schädling sein erstes Loch in ein Blatt gefressen hat und reagieren mit dem Aussenden von Duftmolekülen, um Wespen anzulocken, die diese Schädlinge fressen? –
Der Pflanzenneurobiologe Anthony Trewavas definiert Intelligenz als ‘detaillierte sensorische Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Lernen, Gedächtnis, optimierte Erschließung von (Nahrungs-)Ressourcen, Selbsterkennung, Vorausschau und die Fähigkeit zur Problemlösung in wiederkehrenden und neuen Situation.’ Alle diese Eigenschaften, behauptet Trewavas, träfen auch auf Pflanzen zu. Der US-amerikanische Biologe Bruce Lipton ging noch einen Schritt weiter und versuchte zu zeigen, dass jede einzelne Zelle über Intelligenz verfügt, und dass unser Schicksal nicht durch unsere Gene, sonder durch unsere Wahrnehmung gesteuert werde. Ob diese Thesen sich bestätigen oder nicht, können wir mit Interesse mitverfolgen, aber es scheint mir Grund genug, uns vielleicht etwas zurückzunehmen mit unserem vermeintlichen ‘Wissen’.
Fazit: Wach und neugierig bleiben, und bereit sein, uns täglich von unseren Tieren überraschen zu lassen; unsere Kommunikation mit ihnen verfeinern und gemeinsam das herausfinden, was ihrem Wesen entspricht und ihnen Freude macht. Und dabei nicht allzuviel auf die selbsternannten Gurus und Besserwisser hören. – Viel Spass!
Berichtet uns von der Intelligenz eurer Tiere und Pflanzen an redaktion@kavallo.ch – die spannendsten Geschichten werden publiziert!
Auf dem Hauptbild: Slevi und Deborah auf der Frauenfelder Allmend. Foto: www.honigleupictures.ch
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Wow! Dieser Beitrag hat wirklich Hand und Fuss und rüttelt auf zur Aufmerksamkeit. Es gibt Sportreiter, die auch sehr differenziert mit dem Thema des Wohlbefindens Ihrer Pferde umgehen. Die Wissenschaft kann uns interessante Indizien/Indikatoren liefern, die unter den Rahmenbedingungen einer Studie wohl aussagekräftig sind, jedoch nicht einfach 1:1 auf den Alltag des eigenen Pferdes appliziert werden können. Es braucht eben beides: Die Wissenschaft einsersits und den neugierigen, offenen, sensitiven aber trotzdem pragmatischen Reiterin resp. Pferdebesitzer andererseits.